Wer die Lesung nicht bei uns in der Spandauer Neustadt miterleben durfte, sei sie trotzdem ans Herz gelegt, wenn sie anderswo in Berlin erfolgt. Wir erfuhren etwas über Menschen in unserer direkten Umgebung, deren Leben sich gefühlt „unter unserem Radar befindet“. Gerade eine stetig zunehmende Feindlichkeit gegen alles, was „irgendwie anders ist“ zeigt, wie wichtig es ist, zu wissen, und nicht Vorurteilen zu unterliegen. Die Lesung macht nachdenklich, erheitert, hält uns ein klein wenig einen Spiegel vor, zeigt aber auch deutlich, dass es bei aller Unterschiedlichkeit viel mehr Verbindendes gibt. Nicht nur die Lesung selbst war allein schon hörenswert. Auch der anschließende gemütliche Austausch zeigte, wie wichtig es ist, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um die Gegenwart zu verstehen.
Am 30. Oktober 1961erfolgte die Unterzeichnung des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Viele Menschen kamen in der Folge nach Deutschland. Was sie oder ihre Kinder in Deutschland erlebten, ist Teil der Lesung von „Daughters and Sons of Gastarbeiters“. Viele fanden hier ihre neue oder wenigstens eine zweite Heimat.
Seit den 1960er Jahren haben Gastarbeiter*innen einen bedeutenden Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands geleistet, der jedoch oft nicht angemessen gewürdigt wird. Ihr Leben blieb weitgehend im Verborgenen. Es ist an der Zeit, diese Biografien als Teil der deutschen Erinnerungskultur zu integrieren und nicht länger als exotische Multikulti-Besonderheit zu stigmatisieren. In der Lesung von Dr. Çiçek Bacik, Semra Deniz und Serkan Deniz im Paul-Schneider Haus gaben drei sehr unterschiedliche Erzählungen einen sehr persönlichen Einblick in diese Zeit. Im Publikum war auch eine Lehrerin aus dieser Zeit, die – damals berlinweit einmalig – die Kinder der Gastarbeiter*innen (im Paul-Schneider Haus) in deutscher Sprache unterrichtete. Alle anderen erhielten ihren Unterricht in ihrer Heimatsprache. Integration war offensichtlich kein Thema.
Die erzählten Geschichten sollen einen Dialog über das Selbstverständnis und die Bedeutung von Einwanderinnen in der deutschen Gesellschaft eröffnen und die Erinnerungskultur des Landes bereichern. Die Kinder und Enkel der „ersten Generation“ lassen mit ihren Erzählungen ihre Geschichte aber auch die Geschichte ihrer Eltern wieder aufleben und verleihen einer nicht im allgemeinen Bewusstsein befindlichen Generation eine Stimme. In diesen Geschichten erfahren wir etwas über die Kultur der Gastarbeiter*innen und die Erlebnisse im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen und beiderseits gepflegter Vorurteile.
Die Literaturplattform „Daughters and Sons of Gastarbeiters“ wurde im Januar 2015 in Berlin gegründet, um autobiografische Geschichten aus familiären Hintergründen zu präsentieren und den Fokus auf die Lebensrealitäten von Menschen mit Migrationshintergrund zu lenken.
Daughters and Sons of Gastarbeiters
https://www.gastarbeiters.de